Freitag, 30. März 2018
Progressivität als Legitimationsbasis für Neoliberalismus
Mein Mitblogger Davezeville konstatiert völlig zurecht, dass sowohl die zivilgesellschaftliche als auch die parteipolitische Sozialdemokratie Europas progressive Errungenschaften der letzten 150 Jahre in Zusammenarbeit mit anderen progressiven Kräften für sich verbuchen kann. Das grundsätzliche Problem europäischer Sozialdemokraten besteht jedoch nicht vordegründig darin, dass sie selbst geschlossen und ernsthaft rechtspopulistische Vorurteile und Stimmungen bedient, auch wenn die europäische Sozialdemokratie, eindrückliches Beispiel ist Österreich, davor nicht gefeit ist. Auch die SPD in Deutschland fällt, wenn auch eher sporadisch, mit rechtsgerichteten Politikern auf, Paradebeispiel hierfür ist Thilo Sarrazin. Dieser Umstand belegt die Tatsache, dass auch die SPD nicht die „reine demokratische Mitte“ verkörpert, wie sie gerne vorgibt und wie ich in einer vorherigen Analyse bereits dargelegt habe. Ich folge allerdings der These, dass das Kernproblem der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert ein progressiver Neoliberalismus ist, den Nancy Fraser in den USA für die Demokratische Partei diagnostiziert (vgl. Fraser 2017). Dieser Umstand ist meines Erachtens weitgehend auf die europäische Sozialdemokratie übertragbar, abgesehen von Jeremy Corbyns Labour Party.

Somit manifestiert sich das eigentliche Problem europäischer Sozialdemokratie eher in ihrer eigentümlichen Allianz aus gesellschaftspolitischer Progressivität und wirtschafts-, finanz-, steuer- außen- und handelspolitischem Neoliberalismus. Der Einsatz für eine formale Gleichberechtigung aller im Staat befindlichen Menschen unabhängig ihrer Herkunft, ihres Glaubens, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung ist zu einem guten Teil unter Sozialdemokraten fortgeführt worden. Der Bruch mit ihrem Kerngeschäft, einen Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital zu schaffen, kam mit der Agenda 2010 und den Hartz IV Reformen unter der Bundesregierung von SPD und Grünen.

Während andere sozialdemokratische Parteien in Europa jedoch schon längst in der Bedeutungslosigkeit versanken, schaffte es die SPD sich mit einem progressiven Neoliberalismus über Wasser zu halten, auch wenn sie beträchtliche Teile der Stammwählerschaft im Zuge ihrer neoliberalen Reformen verprellte. Weiter noch, so meine These, legitimiert(e) die SPD mit progressiver Agenda ihre neoliberale Wende von der sich die Parteispitze und Teile der Basis immer noch nicht kritisch distanzieren und abwenden.

Als Martin Schulz als designierter Kanzlerkandidat der SPD die Chance hatte für einen längst überfälligen und grundlegenden Politikwechsel der Partei, schwenkte er in der Gunst der Stunde einen gesellschaftspolitischen Kurs ein: die Legalisierung der Homoehe. Was zweifelsohne ein zu begrüßender Fortschritt ist, ist meiner Auffassung nach gleichzeitig Beleg für meine These. Ferner wurde von der SPD Spitze die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen zurecht problematisiert. Aber in ihrem eigentlichen Kerngeschäft, für eine Kompensation der sozioökonomischen Gegenstätze von oben und unten zu sorgen, gab es nur zögerliche Angebote für marginale Stellschraubendrehungen.

Ganz im Gegenteil war es die Parteiführung der SPD selbst, die mit der Agenda 2010 einen Politikwechsel zu Lasten der ärmeren Hälfte der Bevölkerung und anderer Volkswirtschaften in der Europäischen Währungsunion vollzog. Man glaubte mit Lohnsekungen Arbeitsplätze schaffen zu können und hoffte auf Vollbeschäftigung. Die SPD unterlag einem neoklassischen Trugschluss und leistete damit einen Offenbarungseid. Entweder man konnte oder wollte ökonomische Zusammenhänge nicht verstehen. Der neoklassische Trugschluss besteht darin, dass man glaubt, der Arbeitsmarkt würde genauso funktionieren wie ein Kartoffelmarkt, bei dem Angebot und Nachfrage unabhängige Größen seien (vgl. Flassbeck 2017). Wenn die Preise für Kartoffeln sinken, werden sie weiter gekauft und verzehrt. Wenn man den Preis für Arbeit senkt, senkt man gleichzeitig verfügbares Einkommen von Menschen, die wiederum Güter und Dienstleistungen nachfragen. Kartoffeln fragen jedoch nichts nach, Menschen schon. Wenn also beispielsweise die Löhne um 20% gesenkt werden, sinkt die Binnennachfrage um 20%, wenn man nicht völlig Pleite gehen will. Kommen 20% weniger Nachfrage bei Unternehmen an, stellen sie nach neoklassischen Ökonomen 20% mehr Leute an, da sinkende Löhne dieser Theorie zufolge Arbeitslosigkeit verringern. Logisch ist aber, dass 20% weniger angestellt werden, wenn 20% weniger nachgefragt wird, da die Leute, die 20% mehr Nachfrage entsprechend produzieren und bedienen würden, bei 20% weniger Nachfrage nicht mehr gebraucht werden. Sie werden folglich entlassen.

Dieses neoklassische Denken setzte sich bereits in den 1970er Jahren zum Ende des Bretton Woods Systems durch. Aus einer weitgehend funktionierenden sozialen Martkwirtschaft wurde eine unsoziale und äußerst krisenanfällige Marktwirtschaft. Man nahm an, dass zu hohe Löhne die Ursache für (eine im heutigen Vergleich relativ geringe!) Arbeitslosigkeit gewesen waren. Diese Annahme ist jedoch empirisch unhaltbar (vgl. ebd.). Denn obwohl die Lohnquote in Europa sank, blieb die Arbeitslosigkeit andauernd höher als in den 1960er Jahren (vgl ebd.). Das plastischste Beispiel für diesen neoklassischen Trugschluss ist Griechenland. Kein Land der industrialisierten Welt hat die Löhne in den letzten 80 Jahren derart gesenkt wie Griechenland. Hat Griechenland jetzt Vollbeschäftigung? … Und hat die Agenda 2010 zu Vollbeschäftigung geführt? Man hat doch rigoros die Löhne gesenkt und den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen. Würde die neoklassische Arbeitsmarkttheorie stimmen, müsste Arbeitslosigkeit spätestens nach der Agenda 2010 sogut wie keine Rolle mehr spielen. Indem aber die Löhne gesenkt wurden, fiel die Lohnentwicklung in der BRD weit hinter die Produktivität zurück. Dies führte zur Deflation, also einer zu geringen Inflationsrate weit unter dem EZB Inflationsziel von 1,9%, da sich die Inflationsrate aus dem Verhältnis der Nominallöhne und der Produktivität einer Volkswirtschaft ergibt. Solange Deflation herrscht, wird die EZB die Zinsen niedrig halten. Aber in welchem Land wird so viel darüber lamentiert, dass die niedrigen Zinsen den deutschen Sparer bestrafen? Das Land, das die deflationäre Situation selbst geschaffen hat. Deutschland wurde also billiger mit der Folge im Außenhandel mehr Güter absetzen zu können, weil man eben billiger ist. Dieser Wettbewerbserfolg hat also auch nichts mit einer vermeintlichen besseren Qualität deutscher Produkte zu tun, sondern damit, dass man eine 300 Jahre alte Wirtschaftspolitik betreibt: Merkantilismus.

Diese Konstellation führte zum größten Leistungsbilanzüberschuss - gemessen am BIP - aller Zeiten. Dem derzeitigen Leistungsbilanzüberschuss von Deutschland. Wer aber einen Leistungsbilanzüberschuss hat, muss darauf setzen, dass sich andere Volkswirtschaften systematisch verschulden. Verschulden können sich nur private Haushalte, Unternehmen und Staaten. In Deutschland sparen mittlerweile alle drei Sektoren. Andere Staaten können aber schlichtweg ihre Schulden nicht abbauen, solange ganz Deutschland spart und einen Leistungsbilanzüberschuss hat. Außenwirtschaftliche Gleichgewichte können lediglich erreicht werden, wenn sich die Salden insgesamt zu Null addieren. Die verlangte Austeritätspolitik scheitert schon an dieser logischen Einsicht.

In einer funktionierenden sozialen Martkwirtschaft würden nicht der Staat und das Ausland ständig Schulden machen, sondern Unternehmen, weil sie investieren und sich so verschulden, während private Haushalte sparen. Da die Binnennachfrage in neoliberalen Zeiten jedoch geringer ist und durch steuerliche Entlastungen für Unternehmen nur Privatgewinne gesteigert wurden, die Unternehmen nicht reinvestieren, kann die Marktwirtschaft nicht funktionieren und wird äußerst krisenanfällig.

Es gibt also eine soziale Marktwirtschaft, die ihren Namen verdient, weil sie durch deutlich verringerte soziale Ungleichheit aufgrund einer Rückverteilung von Einkommen und Vermögen von oben nach unten, Vollbeschäftigung, investierende und sich verschuldende Unternehmen, Lohnentwicklungen im Verhältnis zu Produktivitätsentwicklungen (Preisstabilität), relative außenwirtschaftliche Gleichgewichte, hohe öffentliche Investitionen, stabile und ausfinanzierte soziale Sicherungssysteme sowie ökologisch und sozial nachhaltige Produktion gekennzeichnet ist. Man mag diese Form sozialer Marktwirtschaft demokratischen Sozialismus taufen. Letztlich ist es ökonomisch betrachtet ein neokeynsianisch modifiziertes Bretton Woods System.

Entweder die SPD beginnt diese ökonomischen Zusammenhänge zu reflektieren und dem entsprechend ihre Politik neu zu orientieren oder sie wird weiterhin versuchen, neoliberalen Mainstream mit einer progressiven Agenda zu legitimieren, bis irgendwann auch diese Legitimationsbasis zusammenbricht. Progressive Politik ist richtig und wichtig. Wird sie betrieben, um vom neoliberalen Kurs abzulenken, erscheint sie vor diesem Hintergrund leider auch Teil des Problems zu sein. Wenn die politische Kurskorrektur diesen Umstand berücksichtigt, wird es nicht reichen, einfach nur die soziale Frage zur grundsätzlich progressiven Ausrichtung zu ergänzen. Man wird angesichts des jahrelangen Ungleichgewichts dieser beiden politischen Koordinaten (Progressive Politik und Umverteilungspolitk) die soziale Frage in den Vordergrund rücken müssen, um eine glaubhafte politische Alternative bieten zu können. Denn in diesem massiven Ungleichgewicht, das progressive Politik massiv gegenüber Umverteilungspolitik bevorzugt, manifestierte und manifestiert sich ja gerade die Schwäche des progressiven Neoliberalismus wie er unter anderem von der SPD seit Gerhard Schröder vertreten wird. Dieses jahrelange Ungleichgewicht verlangt nach einem Ausgleich, nicht bloß einer Ergänzung.

Quellen:

Flassbeck, Heiner (2017): Wie sozial kann Wirtschaft sein? In: https://www.youtube.com/watch?v=9bDWhBCi_AY

Fraser, Nancy (2017): Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/18



Montag, 6. Juni 2016
Progressiv ist nicht genug
Feminismus und Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen, Unterstützung geflüchteter Menschen, demokratische Partizipation, Umwelt- und Klimaschutz, Vorantreiben der Digitalisierung und Kampf gegen Überwachung, Laizismus (oder zumindest ein gewisses Maß an Trennung von Religion und Staat). Diese Themen und viele weitere sind, einige mehr, andere weniger, mittlerweile Konsens progressiver politischer Kräfte. Aus gutem Grund hat sich die Sozialdemokratie in Europa und gerade in Deutschland viele dieser Ziele in den letzten 150 Jahren adaptiert und sie zu ihren eigenen gemacht. So konnten z.B. das Frauenwahlrecht, die „Legalisierung“ von Homosexualität, der Ausstieg aus der Atomkraft und vieles mehr erreicht werden, mit Unterstützung einer sich stets wandelnden Sozialdemokratie. Am Ende der Entwicklung sind wir aber hoffentlich noch lange nicht angekommen, denn es gibt noch viel zu erreichen.

Kurzum: Der Kampf um das Mehr an individuellen und kollektiven Rechten und Freiheiten in einer demokratischen Gesellschaft ist ein enorm wichtiger und die Sozialdemokratie in Europa täte gut daran, sich nicht von rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien von diesem Kurs abbringen zu lassen.

Dass ein Abwenden von diesen progressiven Grundwerten die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie untergräbt, schädlich ist und in keiner Weise einen Stimmungsumschwung für die Sozialdemokratie bewirkt, lässt sich sehr gut in Österreich beobachten. Das Umschwenken der SPÖ auf einen rechten Hardliner-Kurs in der Geflüchtetensituation hat vielmehr die RechtspopulistInnen und Rechtsradikalen der FPÖ gestärkt – schließlich konnten sie die Forderungen, die sie schon seit langem vertreten, sogar aus der Opposition heraus verwirklichen.

Progressiv ist also wichtig. Aber progressiv ist nicht genug. Diese Erkenntnis ist aus meiner Sicht der Schlüssel zum Verständnis der fundamentalen Krise der Sozialdemokratie in Europa. Will die SPD (und das gilt für die anderen europäischen sozialdemokratischen Parteien genauso) in Zukunft noch als so etwas wie eine linke Volkspartei weiterexistieren, muss sie sich auf eine weitere Säule stützen. Es ist die Säule, die sie ursprünglich ausmachte und es ist umso bitterer, dass diese in der Parteiführung so sehr in Vergessenheit geraten zu sein scheint, dass sie überhaupt keine Rolle mehr spielt. Der aus der ArbeiterInnenbewegung entstandene Kampf um Umverteilung und den demokratischen Sozialismus als Gesellschaftsform, die u.a. auf Kooperation, Solidarität und demokratischer Wirtschaftssteuerung basiert, wird von vielen SpitzenfunktionärInnen in der Partei nur noch als Träumerei angeblich „weltfremder linker Spinner“ wie uns Jusos angesehen, der sich nicht mehr lohnt.

Stattdessen zählen nur noch die Zahlen eines steigenden Bruttoinlandsproduktes, ohne dass sich darüber Gedanken gemacht wird, dass dieses Wachstum nur dann gesellschaftlich sinnvoll sein kann, wenn alle davon profitieren und nicht, wenn die sowieso schon Reichen noch viel reicher werden und die Armen noch kleinere Stücke vom Kuchen bekommen. Selbst „kapitalismusimmanent-linke Politik“, soweit so etwas möglich ist, findet kaum noch statt. Die SPD trägt seit Jahren eine Steuerpolitik mit, die die öffentliche Hand ausbluten lässt und die Umverteilung von unten nach oben statt umgekehrt fördert. Gleichzeitig hat sie selbst Reformen zugelassen, die die sowieso schon Schwachen noch mehr unter Druck setzt und an den Rand der Existenz bringt – mit der Konsequenz, dass auch die Mittelschicht erodiert, da Löhne und Arbeitsbedingungen an vielen Stellen zu wackeln beginnen, nicht zuletzt weil sich der Arbeitsmarkt immer mehr prekarisiert (Vollzeit-unbefristet – das gibt es immer weniger). Geradezu zynisch wirkte da Gerhard Schröder, als damaliger sozialdemokratischer Kanzler maßgeblich an diesem Prozess beteiligt, als er vor der weltweiten Wirtschaftselite prahlte, man habe in Deutschland einen der besten Niedriglohnsektoren Europas geschaffen. Noch schlimmer ist, dass auch nach ihm die Parteiführung nicht zur Besinnung kam und bis heute das neoliberale Husarenstück Agenda 2010 und die Hartz IV-Reformen für grundsätzlich richtig hält.

Gerade vom rechten Parteiflügel wird viel herumlaviert. Man schaut sich in Europa um und sagt, der Niedergang der Sozialdemokratie ist ein europäisches Phänomen und habe nichts mit neoliberaler Politik zu tun. Ersteres ist zwar richtig, verkennt aber, dass, angespornt durch das Blair-Schröder-Papier die europäische Sozialdemokratie als solche den verhängnisvollen Pfad der Stärkung des Kapitals auf Kosten der Arbeit gegangen ist und dafür bestraft wurde und wird.

Der nächste fatale, neoliberale Fehler wurde dann auf europäischer Ebene gemeinsam, aber maßgeblich getrieben auch durch deutsche SozialdemokratInnen, gemacht, indem man die Austeritäts-, also die vermeintliche Sparpolitik der schwarzen Null zum ersten Ziel der Politik machte und damit ganze Staaten nach der Finanzkrise in den Abgrund schubste: Wo ein beherzt eingreifender, gut finanziell ausgestatteter Staat von Nöten gewesen wäre, um Volkswirtschaften zu retten, wurde die eisern sparende schwäbische Hausfrau auf’s Podest gehoben, die eigentlich im Staatshaushalt nichts zu suchen gehabt hätte und die eine wirtschaftliche Erholung unmöglich machte.

Diese Fehler haben uns, auf gut deutsch gesagt, ganz tief in die Scheiße geritten. Und die Rechnung kommt jetzt umso deftiger in der Geflüchtetensituation. Während viele BundesbürgerInnen die Schnauze voll haben, dass sie statt guter Arbeit immer schlechtere (und schlechter bezahlte) Arbeit bekommen und die soziale Infrastruktur ächzt und teilweise zusammenbricht, lassen sich die europäischen PartnerInnen nach Jahren der deutschen Hegemonie nicht zu einer „europäischen Lösung“ bringen.

Vielen potenziellen SPD-WählerInnen ist es wichtig, dass die Sozialdemokratie sich für progressive Politik einsetzt. Andere dagegen juckt progressive Politik nicht die Bohne. Das mag daran liegen, dass in ihnen drin ein/e RassistIn, SexistIn, HomophobeR oder sonst etwas schlummert oder aber daran, dass es sie tatsächlich nicht interessiert. Wie dem auch sei, wir sollten uns weiterhin für diese Politik einsetzen und versuchen, auch jene von dieser Politik zu überzeugen.

Wenn wir diesen Menschen aber ein wirkliches Angebot machen wollen, müssen wir gleichzeitig auch für unsere Grundwerte eintreten. Wir müssen linke Politik im Sinne einer sozialdemokratischen Umverteilungspolitik machen, die durch öffentliche Investitionen die soziale Daseinsvorsorge qualitativ und quantitativ hochwertig gewährleistet und auf das Wirtschafts- und Arbeitsmarktgeschehen Einfluss nimmt. Zugunsten derjenigen, für die wir verdammt noch mal da sind: Nicht für das Kapital, sondern für die Arbeit. Nicht für die Reichen, sondern für die, die wenig haben. Es muss wieder Umverteilung von oben nach unten geben und WIR müssen diejenigen sein, die diese umsetzen.

Progressive Politik ist wichtig. Progressive Politik ist aber nicht genug. Wir haben im Bereich demokratischer Sozialismus einiges aufzuholen. Wir müssen uns auf beide Säulen stützen – ansonsten wird die SPD ein, wenn auch großer, Teil der Geschichte oder zumindest eine marginalisierte Splitterpartei werden.



Dieser Beitrag von davezeville erschien erstmals wenige Stunden vor dem Erscheinen auf diesem Blog als Meinungsbeitrag auf dem MorgenRot-Blog der Jusos Bremen.



Donnerstag, 2. Juni 2016
Bedingungslos nicht antikapitalistisch
Warum man als Linker auch gegen das bedingungslose Grundeinkommen sein kann


Es ist wieder in vieler Munde: Da am Sonntag eine Volksabstimmung darüber abgehalten wird, ist das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) mal wieder ein Medientrend. Das BGE hat eine für das politische Leben ungewöhnliche Eigenschaft: Die Diskussionen darüber verlaufen nicht entlang der traditionellen Links-Rechts-Gräben, sondern vielmehr quer durch die Parteien und politischen AkteurInnen. Sowohl unter Linken als auch unter Neoliberalen hat das BGE BefürworterInnen und GegnerInnen – und das nicht zu knapp.

Da ich eine Menge Zeit unter linksgerichteten Menschen verbringe, seien sie nun Jusos oder nicht, habe ich auch etliche Diskussionen über das Thema geführt. Es ist eine dieser Debatten, die sehr anstrengend sind, gerade innerhalb solcher Verbände, da sie sehr emotional und sehr kontrovers geführt werden, ähnlich der Debatten, wie man zu gendern hat. Außerhalb der Jusos, wo sich mehrheitlich GegnerInnen des BGE tummeln (und das, worauf ich gleich komme, aus guten Gründen), habe ich oft den Eindruck, dass einem vorgeworfen wird, man sei nicht links, wenn man das BGE nicht unterstütze.

Ich kann dazu nur sagen: Mitnichten. Ich verstehe mich als demokratischer Sozialist und bin gegen das bedingungslose Grundeinkommen. Nur warum?

Zunächst einmal ein rein realpolitisches Problem: Die Kosten! Wenn 80 Millionen BundesbürgerInnen jeweils jeden Monat 1000 Euro bekommen sollen, macht das 80 Milliarden Euro im Monat und 960 Milliarden Euro im Jahr. Der geplante Bundeshaushalt 2016 liegt bei etwa 316 Milliarden Euro. In Zeiten der wahnwitzigen Schuldenbremse dürfen diese Überlegungen nicht außer Acht gelassen werden, allerdings bin ich der Meinung, dass dies das am wenigsten schlagkräftige Argument ist, da das Geld eigentlich da ist, in den Taschen der Reichen.

Was ich viel wichtiger finde ist, dass das BGE schlicht und ergreifend kein sozialstaatliches Instrument ist. Im Gegenteil: Durch eine „Vereinfachung“ der Sozialsysteme und Beschränkung der Leistungen auf das BGE wird nicht mehr individuell geschaut, wie es Menschen geht und wie man sie bestmöglich in die Gesellschaft integrieren kann, sodass sie ein gutes Leben führen können. Stattdessen werden ihnen 1000 Euro gegeben (oder mehr oder weniger) und ihnen dann ein schönes Leben gewünscht, für das sie nun völlig eigenständig verantwortlich sind.
Für viele Menschen mag das kein Problem sein, da sie wenige Probleme haben, wenige andere leben zufrieden in den Tag hinein; ein beachtlicher Teil der Bürgerinnen und Bürger dagegen hat Probleme, mit dem Leben in unserer Gesellschaft klarzukommen und ist auf die Unterstützung fürsorgender Sozialsysteme angewiesen. Eine Abschaffung dieser zugunsten einer vermeintlich positiven Individualisierung ist für diese Menschen eine Katastrophe.

Oft wird argumentiert, dass das BGE den Druck nimmt, der auf den ArbeitnehmerInnen lastet, da sie nach dessen Umsetzung nicht mehr arbeiten müssten. Ebenso sollen die Löhne steigen, da sie nun auch nicht jeden Job annehmen müssten und deshalb in einer besseren Verhandlungsposition seien. Aus meiner Sicht übersehen diese Argumente einige elementare Punkte. Zum einen kann es gut sein, dass staatliche Leistungen im Rahmen der Umsetzung des BGE zurückgefahren werden, die dann von den beispielhaften 1000 Euro bezahlt werden müssen. Je nach Höhe des BGE im Konzept ist die Problematik größer oder weniger groß ausgeprägt. Gleichzeitig schlägt das BGE den Gewerkschaften das Schwert aus der Hand: Wenn der Staat den Menschen schon einen Batzen Kohle gibt, gibt es keinen Druck auf die Unternehmen, nochmal einen großen Batzen draufzupacken – das BGE würde also vielmehr Löhne senken anstatt sie zu steigern. Mit der Folge, dass die ArbeitnehmerInnen zwar (wenn überhaupt) genausoviel Geld wie vorher bekommen, die Unternehmen aber einen höheren Anteil für sich behalten können.
Das bedeutet, dass das BGE nicht nur nichts gegen die Verteilungsungerechtigkeit tut, sondern diese noch weiter zugunsten des Kapitals verschiebt. Ja, es führt letztlich dazu, dass dem Thema Verteilungsgerechtigkeit möglicherweise kaum noch Bedeutung zukommen würde – es ist ja für alle gesorgt.

Schließlich, und das ist das Argument, welches für mich als demokratischen Sozialisten das spezifische ist, führt das BGE dazu, dass das Ziel der Vollbeschäftigung aufgegeben wird. Ich bin der Meinung, dass Arbeit für Menschen ein sinnstiftendes Element und extrem wichtig ist. Ich sage: Die Erwerbsarbeit ist zentral. Die Arbeit ist im kapitalistischen System ein Ausbeutungsverhältnis, doch man überwindet dieses System nicht dadurch, das Ziel, alle Menschen in Arbeit zu bringen, aufzugeben. Im Gegenteil. Nur wenn die Vollbeschäftigung erreicht ist und die ArbeitnehmerInnen dann mit gemeinsamer starker Stimme sprechen können, ist ein nachhaltiger, demokratischer Wandel möglich.
Um diese Vollbeschäftigung zu erreichen ist natürlich völlig klar, dass es eine bedingungslose Grundsicherung geben muss, die allen Arbeitslosen ausgezahlt wird und die in angemessener Höhe sein muss, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen und am soziokulturellen Leben teilzuhaben. Dies ist notwendig, damit sie weniger Druck, Arbeit zu finden und damit auch eine bessere Verhandlungsbasis gegenüber den ArbeitgeberInnen haben.

Davon abgesehen bin ich der Meinung, dass im von mir angestrebten demokratischen Sozialismus alle Menschen durch solidarische Zusammenarbeit zum gesellschaftlichen Gelingen beitragen sollten, jedeR nach seinen Fähigkeiten und möglichst stark nach seinen/ihren Interessen. Nur so kann produziert werden, was vorher gemeinsam demokratisch entschieden wurde.

Ein BGE ist nicht antikapitalistisch. Letzten Endes verschärft es stattdessen auch noch gesellschaftliche Probleme, die im Kapitalismus entstanden sind. Deshalb können auch Linke dagegen sein und sollten es aus meiner Sicht auch, um die Zeit zu haben, sich sinnvolleren Projekten zu widmen.