Freitag, 30. März 2018
Progressivität als Legitimationsbasis für Neoliberalismus
Mein Mitblogger Davezeville konstatiert völlig zurecht, dass sowohl die zivilgesellschaftliche als auch die parteipolitische Sozialdemokratie Europas progressive Errungenschaften der letzten 150 Jahre in Zusammenarbeit mit anderen progressiven Kräften für sich verbuchen kann. Das grundsätzliche Problem europäischer Sozialdemokraten besteht jedoch nicht vordegründig darin, dass sie selbst geschlossen und ernsthaft rechtspopulistische Vorurteile und Stimmungen bedient, auch wenn die europäische Sozialdemokratie, eindrückliches Beispiel ist Österreich, davor nicht gefeit ist. Auch die SPD in Deutschland fällt, wenn auch eher sporadisch, mit rechtsgerichteten Politikern auf, Paradebeispiel hierfür ist Thilo Sarrazin. Dieser Umstand belegt die Tatsache, dass auch die SPD nicht die „reine demokratische Mitte“ verkörpert, wie sie gerne vorgibt und wie ich in einer vorherigen Analyse bereits dargelegt habe. Ich folge allerdings der These, dass das Kernproblem der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert ein progressiver Neoliberalismus ist, den Nancy Fraser in den USA für die Demokratische Partei diagnostiziert (vgl. Fraser 2017). Dieser Umstand ist meines Erachtens weitgehend auf die europäische Sozialdemokratie übertragbar, abgesehen von Jeremy Corbyns Labour Party.

Somit manifestiert sich das eigentliche Problem europäischer Sozialdemokratie eher in ihrer eigentümlichen Allianz aus gesellschaftspolitischer Progressivität und wirtschafts-, finanz-, steuer- außen- und handelspolitischem Neoliberalismus. Der Einsatz für eine formale Gleichberechtigung aller im Staat befindlichen Menschen unabhängig ihrer Herkunft, ihres Glaubens, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung ist zu einem guten Teil unter Sozialdemokraten fortgeführt worden. Der Bruch mit ihrem Kerngeschäft, einen Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital zu schaffen, kam mit der Agenda 2010 und den Hartz IV Reformen unter der Bundesregierung von SPD und Grünen.

Während andere sozialdemokratische Parteien in Europa jedoch schon längst in der Bedeutungslosigkeit versanken, schaffte es die SPD sich mit einem progressiven Neoliberalismus über Wasser zu halten, auch wenn sie beträchtliche Teile der Stammwählerschaft im Zuge ihrer neoliberalen Reformen verprellte. Weiter noch, so meine These, legitimiert(e) die SPD mit progressiver Agenda ihre neoliberale Wende von der sich die Parteispitze und Teile der Basis immer noch nicht kritisch distanzieren und abwenden.

Als Martin Schulz als designierter Kanzlerkandidat der SPD die Chance hatte für einen längst überfälligen und grundlegenden Politikwechsel der Partei, schwenkte er in der Gunst der Stunde einen gesellschaftspolitischen Kurs ein: die Legalisierung der Homoehe. Was zweifelsohne ein zu begrüßender Fortschritt ist, ist meiner Auffassung nach gleichzeitig Beleg für meine These. Ferner wurde von der SPD Spitze die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen zurecht problematisiert. Aber in ihrem eigentlichen Kerngeschäft, für eine Kompensation der sozioökonomischen Gegenstätze von oben und unten zu sorgen, gab es nur zögerliche Angebote für marginale Stellschraubendrehungen.

Ganz im Gegenteil war es die Parteiführung der SPD selbst, die mit der Agenda 2010 einen Politikwechsel zu Lasten der ärmeren Hälfte der Bevölkerung und anderer Volkswirtschaften in der Europäischen Währungsunion vollzog. Man glaubte mit Lohnsekungen Arbeitsplätze schaffen zu können und hoffte auf Vollbeschäftigung. Die SPD unterlag einem neoklassischen Trugschluss und leistete damit einen Offenbarungseid. Entweder man konnte oder wollte ökonomische Zusammenhänge nicht verstehen. Der neoklassische Trugschluss besteht darin, dass man glaubt, der Arbeitsmarkt würde genauso funktionieren wie ein Kartoffelmarkt, bei dem Angebot und Nachfrage unabhängige Größen seien (vgl. Flassbeck 2017). Wenn die Preise für Kartoffeln sinken, werden sie weiter gekauft und verzehrt. Wenn man den Preis für Arbeit senkt, senkt man gleichzeitig verfügbares Einkommen von Menschen, die wiederum Güter und Dienstleistungen nachfragen. Kartoffeln fragen jedoch nichts nach, Menschen schon. Wenn also beispielsweise die Löhne um 20% gesenkt werden, sinkt die Binnennachfrage um 20%, wenn man nicht völlig Pleite gehen will. Kommen 20% weniger Nachfrage bei Unternehmen an, stellen sie nach neoklassischen Ökonomen 20% mehr Leute an, da sinkende Löhne dieser Theorie zufolge Arbeitslosigkeit verringern. Logisch ist aber, dass 20% weniger angestellt werden, wenn 20% weniger nachgefragt wird, da die Leute, die 20% mehr Nachfrage entsprechend produzieren und bedienen würden, bei 20% weniger Nachfrage nicht mehr gebraucht werden. Sie werden folglich entlassen.

Dieses neoklassische Denken setzte sich bereits in den 1970er Jahren zum Ende des Bretton Woods Systems durch. Aus einer weitgehend funktionierenden sozialen Martkwirtschaft wurde eine unsoziale und äußerst krisenanfällige Marktwirtschaft. Man nahm an, dass zu hohe Löhne die Ursache für (eine im heutigen Vergleich relativ geringe!) Arbeitslosigkeit gewesen waren. Diese Annahme ist jedoch empirisch unhaltbar (vgl. ebd.). Denn obwohl die Lohnquote in Europa sank, blieb die Arbeitslosigkeit andauernd höher als in den 1960er Jahren (vgl ebd.). Das plastischste Beispiel für diesen neoklassischen Trugschluss ist Griechenland. Kein Land der industrialisierten Welt hat die Löhne in den letzten 80 Jahren derart gesenkt wie Griechenland. Hat Griechenland jetzt Vollbeschäftigung? … Und hat die Agenda 2010 zu Vollbeschäftigung geführt? Man hat doch rigoros die Löhne gesenkt und den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen. Würde die neoklassische Arbeitsmarkttheorie stimmen, müsste Arbeitslosigkeit spätestens nach der Agenda 2010 sogut wie keine Rolle mehr spielen. Indem aber die Löhne gesenkt wurden, fiel die Lohnentwicklung in der BRD weit hinter die Produktivität zurück. Dies führte zur Deflation, also einer zu geringen Inflationsrate weit unter dem EZB Inflationsziel von 1,9%, da sich die Inflationsrate aus dem Verhältnis der Nominallöhne und der Produktivität einer Volkswirtschaft ergibt. Solange Deflation herrscht, wird die EZB die Zinsen niedrig halten. Aber in welchem Land wird so viel darüber lamentiert, dass die niedrigen Zinsen den deutschen Sparer bestrafen? Das Land, das die deflationäre Situation selbst geschaffen hat. Deutschland wurde also billiger mit der Folge im Außenhandel mehr Güter absetzen zu können, weil man eben billiger ist. Dieser Wettbewerbserfolg hat also auch nichts mit einer vermeintlichen besseren Qualität deutscher Produkte zu tun, sondern damit, dass man eine 300 Jahre alte Wirtschaftspolitik betreibt: Merkantilismus.

Diese Konstellation führte zum größten Leistungsbilanzüberschuss - gemessen am BIP - aller Zeiten. Dem derzeitigen Leistungsbilanzüberschuss von Deutschland. Wer aber einen Leistungsbilanzüberschuss hat, muss darauf setzen, dass sich andere Volkswirtschaften systematisch verschulden. Verschulden können sich nur private Haushalte, Unternehmen und Staaten. In Deutschland sparen mittlerweile alle drei Sektoren. Andere Staaten können aber schlichtweg ihre Schulden nicht abbauen, solange ganz Deutschland spart und einen Leistungsbilanzüberschuss hat. Außenwirtschaftliche Gleichgewichte können lediglich erreicht werden, wenn sich die Salden insgesamt zu Null addieren. Die verlangte Austeritätspolitik scheitert schon an dieser logischen Einsicht.

In einer funktionierenden sozialen Martkwirtschaft würden nicht der Staat und das Ausland ständig Schulden machen, sondern Unternehmen, weil sie investieren und sich so verschulden, während private Haushalte sparen. Da die Binnennachfrage in neoliberalen Zeiten jedoch geringer ist und durch steuerliche Entlastungen für Unternehmen nur Privatgewinne gesteigert wurden, die Unternehmen nicht reinvestieren, kann die Marktwirtschaft nicht funktionieren und wird äußerst krisenanfällig.

Es gibt also eine soziale Marktwirtschaft, die ihren Namen verdient, weil sie durch deutlich verringerte soziale Ungleichheit aufgrund einer Rückverteilung von Einkommen und Vermögen von oben nach unten, Vollbeschäftigung, investierende und sich verschuldende Unternehmen, Lohnentwicklungen im Verhältnis zu Produktivitätsentwicklungen (Preisstabilität), relative außenwirtschaftliche Gleichgewichte, hohe öffentliche Investitionen, stabile und ausfinanzierte soziale Sicherungssysteme sowie ökologisch und sozial nachhaltige Produktion gekennzeichnet ist. Man mag diese Form sozialer Marktwirtschaft demokratischen Sozialismus taufen. Letztlich ist es ökonomisch betrachtet ein neokeynsianisch modifiziertes Bretton Woods System.

Entweder die SPD beginnt diese ökonomischen Zusammenhänge zu reflektieren und dem entsprechend ihre Politik neu zu orientieren oder sie wird weiterhin versuchen, neoliberalen Mainstream mit einer progressiven Agenda zu legitimieren, bis irgendwann auch diese Legitimationsbasis zusammenbricht. Progressive Politik ist richtig und wichtig. Wird sie betrieben, um vom neoliberalen Kurs abzulenken, erscheint sie vor diesem Hintergrund leider auch Teil des Problems zu sein. Wenn die politische Kurskorrektur diesen Umstand berücksichtigt, wird es nicht reichen, einfach nur die soziale Frage zur grundsätzlich progressiven Ausrichtung zu ergänzen. Man wird angesichts des jahrelangen Ungleichgewichts dieser beiden politischen Koordinaten (Progressive Politik und Umverteilungspolitk) die soziale Frage in den Vordergrund rücken müssen, um eine glaubhafte politische Alternative bieten zu können. Denn in diesem massiven Ungleichgewicht, das progressive Politik massiv gegenüber Umverteilungspolitik bevorzugt, manifestierte und manifestiert sich ja gerade die Schwäche des progressiven Neoliberalismus wie er unter anderem von der SPD seit Gerhard Schröder vertreten wird. Dieses jahrelange Ungleichgewicht verlangt nach einem Ausgleich, nicht bloß einer Ergänzung.

Quellen:

Flassbeck, Heiner (2017): Wie sozial kann Wirtschaft sein? In: https://www.youtube.com/watch?v=9bDWhBCi_AY

Fraser, Nancy (2017): Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/18