Naina löst virtuellen Sturm gegen Bildungsystem aus
Von Samstag, den 10.01. bis Mittwochnachmittag, den 14.01. gab es 11.000 Follower, 12.000 Teilungen und 23.000 Favorisierungen für einen Twitter-Beitrag. Dabei handelt es sich nicht um einen B-Promi aus meiner Umgebung, sondern um eine 17-jährige Schülerin aus Köln, die nun für ihre Kritik an der Bildungsinstitution Schule hochgejubelt wird und in sozialen Netwerken durch ihr kritisches statement für Furore sorgt. Auf Twitter namentlich Naina twittert sie:

„Ich bin fast 18 und habe keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen.

Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“

Da kann selbst Bildungsministerin Johanna Wanka nicht mehr an sich halten und lobt Naina für ihre Kritik, indem sie es als in ihrem hochehrwürdigen Interesse als Bildungsministerin bekundet, mehr Alltagsfähigkeit an Schulen zu vermitteln.

Gesellschaftliche Anschlussfähigkeit als Bildungsgut wirkt auf ersten Blick überzeugend und wünschenswert. Aber was bedeutet es denn, in der Schule mehr über Steuern, Miete oder Versicherungen zu unterrichten? Es wird ohne Weiteres als Sollzustand vorausgesetzt, Steuern, Miete oder Versicherungen zu lehren, zu unterrichten und beizubringen, wie sie „allgemein gesellschaftlich“ oder im „Alltag“ funktionieren. Auch die Kritikerinnen und Kritiker der 17-jährigen Kritikerin streiten ledigilich über die Zuständigkeiten, von „Hast du keine Eltern?“ bis hin zur Bemerkung des Präsidenten des deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus: „Ein gewisses Maß an Alltagstauglichkeit müsse in der Familie vermittelt werden.“

Dass dem Verständnis von wirtschaftlichen Phänomen wie Steuern, Miete oder Versicherungen eine spezifische Theorie, ein spezifscher Ansatz wirtschaftlichen Denkens zugrunde liegt, interessiert dabei niemanden. Der 17-jährigen soll es weniger zum Vorwurf gemacht werden, aber von der Königin der Bildung und dem Fürsten der Lehrer hätte ich mir mehr erhofft als eine bloße Scheindebatte über Alltagstauglichkeit.

Integriert man wirtschaftliche Alltagsfähigkeit in welchem Rahmen auch immer in den Schulunterricht, bedeutet es in erster Linie die Indoktrination der selbstverständlich gewordenen neoklassischen Wirtschaftstheorie. Diese ist nicht aus heiterem Himmel selbstverständlich in den Köpfen sehr vieler Menschen unserer Gesellschaft verankert, sondern hat ihre historischen Wurzeln.

Als Karl Marx Mitte des 19. Jahrhunderts die Klassische Politische Ökonomie einer Kritik unterzog, insbesondere, indem er die Herrschaftsstrukturen der Zeit respektive des Klassengegensatzes und der damit einhergehenden Ausbeutung des damaligen Proletariats monierte, delegitimierte er das vorherrschende ökonomische Paradigma. Adam Smith hielt den Subsistenzlohn als Überlebensgaranten noch für legitim und fand es auch unproblematisch, dass das Proletariat von der Wohlstandsmehrung ausgeschlossen war. Karl Marxens Ideen hingegen waren gesellschaftlich anschlussfähig (sic!), sodass sie von der aufstrebenden Arbeiterbewegung aufgegriffen wurden und dem Protest und den politischen Forderungen (Verkürzung des Arbeitstages, Verbot von Kinderarbeit etc.) Aufschwung und Nachdruck verliehen.

Die Bourgeoisie bedurfte eines alternativen Paradigmas, um ihre ökonomischen Interessen und somit ihre ökonomische Dominanz zu rechtfertigen. Ab den 1870er Jahren fing das neoklassische Paradigma an sich zu etablieren. Nicht lange fackelnd, ergriff die Bourgeoisie die Initiative, um mit der Neoklassik ihre ökonomischen Interessen zu untermauern. Dies gelang ihr ziemlich erfolgreich und im selben Zuge fing der Prozess der Institutionalisierung der Ökonomie an. Die neu eingeführten Professuren der Ökonomie wurden vorwiegend von Neoklassikern bekleidet und andere, alternative Paradigmen der Ökonomie (Historische Schule und Klassische Politische Ökonomie z.B) an den Rand gedrängt. Seit jeher (heute in modifizierter Form) dominiert(e) die Neoklassik im akademischen Bereich und auch an Schulen, womit die Wirtschaftswissenschaft bzw. die Volkswirtschaftslehre zu keinem kritischen Zugang zu Wirtschaft fähig ist und Schülern auch kein kritischer Umgang mit Wirtschaft respektive wirtschaftlicher Phänomene wie Steuern, Miete oder Versicherungen vermittelt werden kann.

Kritisches Denken an Schulen und Universitäten unabhängig von der Fachdisziplin zu fördern ist auch keine aus der Luft gegriffene Vorstellungen, sondern logische Konsequenz, wenn man bildungstheoretische Größen wie Max Horkheimer oder Wolfgang Klafki ernst nimmt. Das würde für das Studium der Wirtschaftswissenschaft und für den schulischen Wirtschaftsunterricht bedeuten, Wirtschaft auch aus der Perspektive anderer Paradigmen zu beleuchten, z.B. dem Keynsianismus oder der sozialwissenschaftlichen Politökonomie, mit denen Phänomene wie Steuern, Miete oder Versicherungen in ein völlig anderes Licht rücken würden. Aber was nicht sein darf, das kann ja nicht sein. Es wird lieber von Alltagsfähigkeiten im Umgang mit wirtschaftlichen Phänomenen gesprochen, auf dass gemeinsam mit der Bildungsministerin in neoklassischen Fahrwassern herumplätschert wird.