Verwunderung über die positive Bestandsaufnahme der deutschen Wirtschaft
Entgegen aller Erwartungen wegen weltweiter Krisen wächst die Wirtschaft Deutschlands um 1,5 Prozent an. Das Bruttoinlandsprodukt steigt also um 1,5 Prozent, womit nach Aussage des Präsidenten des Statistischen Bundesamtes die deutsche Wirtschaft in einer „soliden Verfassung“ sei. Spiegel Online berichtet, dass die deutsche Wirtschaft seit 2011 nicht mehr so stark gewesen sei, vor allem dank „kauflustiger Verbraucher“, die ein Rekordhoch an Erwerbstätigkeit verzeichnen und vor allem durch steigende Löhne an Konsumkraft zugelegt haben.

Nach neoklassischem Wirtschaftsdenken ist ein BIP Zuwachs von 1,5 Prozent tatsächlich „solide“. Wenn alle reichlich Güter konsumieren und Dienstleistungen beanspruchen, also kräftig investiert wird, profitiert die Volkswirtschaft in ihrer Ganzheit. So sieht sie es, unsere gute alte Neoklassik. Damit das Ganze auch besonders glaubwürdig erscheint, tischt Spiegel Online gerne Schimären von „steigenden Löhnen“ und „Beschäftigungsrekorden“ auf. Seit der Agenda 2010 ist der Niedriglohnsektor kontinuierlich ausgebaut worden durch Minijobber, Leiharbeiter oder andere Beschäftigte in Dumpinglohnbranchen (dazu ansonsten in Albrecht Müllers Werk „Die Reformlüge“ weiter lesen). Wenn die Anzahl an Beschäftigten also seit 2010 anstieg, dann, weil auf Teufel komm raus Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor geschaffen wurden. Dabei spielte das Einkommen überhaupt keine Rolle. Mehr Arbeitsplätze um jeden Preis, das war der „Erfolg“ der damaligen rot-grünen Regierung.

Interessanterweise ist im Artikel von Spiegel Online überhaupt nur von Wachstum die Rede. Die Frage nach der Verteilung wird gar nicht erst gestellt. Ist in neoklassischem Wirtschaftsdenken aber auch gar nicht notwendig, da Wachstum Wohlstand für alle bedeutet – so sehen es die Lehrbücher und die von diesen beflügelten WirtschaftsexpertInnen und PolitikerInnen.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) legt dabei ziemlich eindeutig eine Verteilung nahe:

Sowohl beim Vermögen als auch beim verfügbaren Einkommen. 50% der Bevölkerung verfügen über ein schwindend geringes Vermögen (1,4%!), 99,5% der Bevölkerung verfügen über 68,8% des Vermögens und unsere Superreichen (0,5% der Bevölkerung) haben alleine einen Anteil von 31,2% des gesamtgesellschaftlichen Vermögens. Beim Einkommen sieht es nicht besser aus. Laut Forschungsergebnissen des Instituts Arbeit und Qualifikation, kurz IAQ, von der Universität Duisburg Essen erhält in Deutschland jeder vierte lediglich einen Stundenlohn von 9,15 Euro, womit sie (jeder 4. Deutsche) nach der OECD auf der Niedriglohnschwelle liegen. Ca. 4,1 Millionen Menschen haben einen niedrigeren Bruttolohn von 7,00 Euro, 1,4 Millionen sogar weniger als 5,00 Euro. Aber nicht doch, Spiegel Online berichtet von steigenden Löhnen! Auf wessen Löhne soll sich diese abstruse Aussage eigentlich beziehen? Hedgefonds-Topmanager verdienen übrigens umgerechnet 400.000 Euro in der Stunde. Sind deren „Löhne“ etwa gestiegen? Der "flächendeckende" Mindestlohn von 8,50 Euro kann bei der Betrachtung der Wirtschaft Deutschlands 2014 kein Argument sein, dass Löhne gestiegen sind, da die Einführung erst mit Beginn des Jahres 2015 gültig gewesen ist.

Immerhin scheint Spiegel Online den makroökonomischen Zusammenhang von steigenden Löhnen, der damit einhergehenden höheren Konsumkraft der Verbraucher und folglich dem wachsenden BIP erkannt zu haben. In der Tat haben der mittlere und der niedere Einkommenssektor die höchste Konsumquote in der Realwirtschaft, da letztere Einkommensgruppen vorwiegend in realwirtschaftliche Güter und Dienstleistungen investieren. Demnach wären höhere Stundenlöhne also durchaus förderlich, um die Wirtschaft anzukurbeln. Mehr Nachfrage an Dienstleistungen und Gütern muss auch von Menschen in Form von Arbeit abgedeckt werden, sodass aus dieser Überlegung heraus höhere Löhne sogar mehr Arbeitsplätze schaffen würden. Aber Wirtschaftsverbände und die von ihnen (erfolgreich) initiierte PR Arbeit suggerieren fast schon allgegenwärtig einen Verlust an Arbeitsplätzen durch höhere Personalkosten wegen Lohnsteigerungen.


Die Zufriedenheit über das Wirtschaftswachstum des BIP um 1,5 Prozent, wie sie im Spiegel Online Artikel zum Ausdruck gebracht wird, teile ich jedenfalls nicht. Es wird nämlich weiterhin entgegen der (oben z.B. genannten) Zahlen und Fakten der Irrtum aufrechterhalten, dass quantitatives Wirtschaftswachstum zu mehr Wohlstand führen würde. Das BIP hat mittlerweile einen Grundwert von 2903,2 Milliarden Euro in Deutschland. Zum Vergleich: 1950 waren es 50 Milliarden Euro. Das Niveau ist demnach beim aktuellen Stand extrem hoch und es wird im Anbetracht der Verteilungsproblematik Zeit, nicht mehr nur das Bruttoinlandprodukt steigern zu wollen, sondern der offenkundigen sozialen Ungleichheit entgegenzuwirken. Dafür allerdings muss wirtschaftspolitisch Verteilung überhaupt erst eine Rolle spielen.