Das Bundekriminalamt hat
eine Analyse mit dem wenig verwunderlichen Ergebnis veröffentlicht, dass Flüchtlinge genauso friedlich/kriminell sind wie Deutsche. Dies sollte zu einer „Versachlichung der Debatte“ beitragen. Sieht man nun die Reaktionen vieler Tausender auf die in Paris verübten Anschläge, scheinen hier jedoch Angst und Schrecken den Versuch einer Versachlichung zu überschatten. Tenor der Reaktionen: unter den Flüchtlingen seien einige IS-Terroristen. Dass dies aber vielmehr eine rechtsextreme Unterstellung als eine realitätsgetreue Einschätzung darstellt, muss glaube ich nicht weiter ausgeführt werden. Derartige Anschläge sind Wasser auf die Mühlen rechtsextremer Instrumentalisierung. Die Analyse des BKAs ergab auch weiterhin, dass alle bisherigen Hinweise auf Terroristen unter Flüchtlingen substanzlos und wie sich in mehreren Fällen herausstellte bloß Produkt übler Nachrrede waren.
Auf blogger.de gibt es einen Blog
Mitdenken für alle, auf dem so getan wird, als sei der Stein der Weisen gegen Rechtsextremismus gefunden worden. Die einzige Möglichkeit, so wird argumentiert, sei mehr Verständnis für die Existenzängste von Rechtsextremisten aufzubringen. Gewalttätige Rechtsextremisten sollen also nicht nur strafrechtlich verfolgt, sondern in irgendeiner Weise psychologisch betreut oder so ähnlich werden. Wenn man auch noch mehr Vertrauen zur Regierung herzustellen vermag und eine Zukunftsperspektive bietet, sei das Problem zwar nicht von heute auf morgen, aber doch langfristig garantiert gelöst. Wenn man es mit der Anregung zum Mitdenken ernst meint, ist man gut beraten, nicht zu glauben, die Non-Plus-Ultra-Lösung gefunden zu haben. Denn so bräuchte man gar nicht mehr mit- und weiter denken.
Meines Erachtens ist die Problemlage beim Rechtsextremismus ein wenig komplexer. Bevor also Lösungsvorschläge unterbreitet werden, sind die Bedingungen der Möglichkeit zur Entstehung von Rechtsextremismus etwas differenzierter zu analysieren. Wenn aber etwas analysiert wird, sollte erst einmal begrifflich geklärt werden, worum es bei dem zu untersuchenden Problem geht. Und hier steht man bereits vor dem Problem, so konstatiert der Rechtsextremismusforscher Richard Stöss, keine allgmein ankerkannte Definition oder gar Theorie des Rechtsextremismus in der Sozialforschung zu haben, da Rechtsextremismus keiner einheitlichen Ideologie folgt. Der Begriff Rechtsextremismus ist vielmehr ein Sammelbegriff, der unterschiedliche rechtsgerichtete, undemokratische und inhumane Erscheinungsformen umfasst. Charakteristisch für Rechtsextremismus sind ein übersteigerter Nationalismus, oft kombiniert mit imperialistischem Großmachtstreben, die Negation von Freiheits- und Gleichheitsrechten des Menschen, die Ablehnung demokratisch-pluralistischer Systeme (Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip etc.) und die völkisch bzw. rassistisch begründete Volksgemeinschaft, die angeblich als reinrassiges, homogenes Volk anderen Völkern überlegen sei. Deutschnationale bzw. nationalistisch-konservative Einstellungen und Bestrebungen fallen ebenso unter diesen Sammelbegriff wie der Faschismus bzw. Neofaschismus.
Im Rahmen der Ursachenforschung existieren unterschiedliche Erklärungsansätze von Rechtsextremismus. Zum einen gibt es sogenannte biologistische Ansätze, die Rechtsextremismus über vermeintlich natürliche Eigenschaften bzw. Merkmalen von Rechtsextremisten zu erklären versuchen. In den 1950/60er Jahren kursierte in der Hinsicht die These, dass wenn die Menschen, die sich mit dem Nationalsozialismus identifizierten, aussterben, der Rechtsextremismus überwunden wäre. Rechtsextremismus sei ein biologisches Problem der Generation der nationalsozialistischen Deutschen gewesen. In etwa zur gleichen Zeit etablierte sich das Erklärungsmodell „verrückter Jugendlicher“. Demnach war Rechtsextremismus ein Phänomen männlicher Jugendlicher. Auch hier war das Gebot der Stunde abwarten, bis diese verrückten Jugendlichen älter werden, dann erledige sich das Problem Rechtsextremismus auf biologisch-natürliche Weise von selbst. Da Rechtsextremismus auch ein Problem der Gegenwart ist und es auch ältere Männer wie Frauen mit rechtsextremen Einstellungen und Verhaltensweisen gibt, liegt der naturalistische Fehlschluss solcher Erklärungsansätze auf der Hand. Es entsteht doch der Eindruck, solche Ansätze entsorgen das Problem vielmehr als dass sie es zu erklären und zu lösen versuchen. Ebenso wie die Gleichsetzungstheorie, die in Form einer Parallelisierung von Faschismus und Kommunismus das Problem Rechtsextremismus verkennt. Beide Ismen werden mit dem Argument gleichgesetzt, sie seien totalitär, ohne dabei die Unterschiede in den Inhalten und Interessen letzterer zu berücksichtigen.
Zeitgenössische Rechtsextremismusforschung geht von einem multifaktoriellem Konglomerat aus, das für die Entstehung von Rechtsextremismus verantwortlich ist. D.h., unterschiedliche Bedingungen rufen das Problem hervor. Über eine dieser Bedingungen gibt die Psychoanalyse Aufschluss, welche die psychischen Dispositionen von Menschen als konstitutiv für Rechtsextremismus erachtet. Hintergedanke war hier, dass das Konzept des autoritären Charakters eine sozialpsychologische Erklärung des Faschimus bieten kann. Man ging davon aus, dass die Macht des Nationalsozialismus nicht ausschließlich auf gewaltsamer Unterdrückung beruhen konnte, sondern eine Aufrechterhaltung und Reproduktion des Systems nur dann gelingen konnte, wenn in unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen wie Familien, Schulen und Betrieben Menschen geformt werden, die ein Bedürfnis nach autoritärer Herrschaft und Unterordnung entwickeln. Nach Theodor W. Adorno lagen rechtsextremem Denken und Handeln verborgene Persönlichkeits- und Charakterstrukturen zugrunde. Die drei entscheidenden Persönlichkeitsmerkmale waren dabei Konventionalismus, autoritäre Unterwürfigkeit und autoritäre Aggression.
Konventionalismus bedeutet eine starre Bindung an die konventionellen Werte und Normen des Mittelstandes. Autoritäre Unterwürfigkeit und autoritäre Aggresion leiten sich aus dem psychoanalytischen Konzept des sado-masochistischen Charakters bei Erich Fromm ab. Der masochistische Anteil des autoritären Charakters bewundert eine Autorität und strebt danach, sich ihr zu unterwerfen, während der sadistische Anteil des autoritären Charakters selbst die Autorität sein will und danach trachtet, andere zu unterwerfen. Diese Charaktereigenschaften gezielt zu erziehen, war nach psychoanalytischer Auffassung das Erfolgsrezept des Nationalsozialismus. Daher scheint eine psychologische Betreuung von gewalttätigen Rechtsextremisten, wie der Blogger von Mitdenken für alle fordert, auch nicht abwegig. Die psychische Disposition ist jedoch lediglich eine notwendige und keine hinreichende Bedingung für Rechtsextremismus. Aufgrund dessen müssen weitere, m.E. vor allem gesellschaftliche Bedingungen berücksichtigt werden.
Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge argumentiert, dass eine weitere dieser Entstehungsbedingungen von Rechtsextremismus im Gestaltungsprinzip unserer kapitalistischen Gesellschaft begründet ist. Die Prinzipien der Leistung und Konkurrenz seien Nährboden für Ausgrenzungsideologien, da Menschen in einer solchen Gesellschaft versuchen, besser zu sein als andere und mehr zu leisten als andere. Weil nicht alle Menschen gleichermaßen im Konkurrenzkampf bestehen, folgt daraus, dass einige gewinnen, andere verlieren und ausgegrenzt werden können. Wird dieser Umstand wiederum simplizistisch gedeutet, treten Ausgrenzungsideologien zu tage.
Die Konkurrenz in unserer kapitalistischen Gesellschaft findet jedoch nicht nur auf Mikroebene zwischen Menschen, sondern auch auf Makroebene zwischen Gesellschaftsschichten statt. Um mehr ökonomischen Druck ausüben zu können, wird der Sozialstaat sukzessive (spätestens seit Agenda 2010) abgebaut, sodass einzelne Gesellschaftsschichten auseinanderklaffen und obere Schichten Druck nach unten ausüben können. Die dem zunehmenden ökonomischen Druck ausgelieferten Schichten wiederum geben diesen Druck an noch schwächere Gesellschaftsgruppen weiter, z.B. ethnische Minderheiten, um diese auszugrenzen. Um die zunehmende Armut und das damit einhergehende Auseinanderklaffen der Gesellschaftsschichten in Deutschland zu verstehen, ist auszuführen, was damit gemeint ist.
Der Soziologe Serge Paugam unterscheidet zwischen integrierter, marginaler und disqualifizierender Armut. Bei der integrierten Armut ist die Anzahl von Armen an einem bestimmten Ort so hoch, dass ihre Situation nicht zu einer sozialen Desinstegration vor Ort führt. Marginale Armut ist nach Paugam ein Produkt entwickelter Wohlfahrtsstaaten, bei der es sich um eine Armut von Minderheiten am untersten Rand der Gesellschaft handelt. Einer Mehrheit in Lohnarbeit Beschäftigter steht dabei eine Minderheit an Armen gegenüber, die als Projektionsfläche für negative Schuldzuweisungen dient und bestenfalls als Hilfsbedürftige gelten. Disqualifizierende Armut betrifft in immer größerem Maße zuvor gesellschaftlich integrierte Bevölkerungsteile und bedeutet so viel wie eine Prekarisierung der Lebenssituation letzterer. D.h., immer mehr Menschen haben aufgrund ihrer Einkommens-, Wohnungs- und Gesundheitssituation mit prekären Situationen zu kämpfen. Armut ist demnach nicht bloß mehr ein exklusives Problem am untersten Rande der Gesellschaft, sondern es geht dabei um Gesellschaftsgruppen deren Abstand zu gesicherten gesellschaftlichen Positionen immer größer wird. Zu ihnen zählen in Deutschland Arbeitslose/Sozialhilfeempfänger (Stand 2015: 4,3 Mio. Personen ALG II + 7,6% aller Deutschen Hartz 4) und abhängig Beschäftigte im Niedriglohnsektor (geringerer Stundenlohn als 9,30 Eur; 1995 18% aller abhängig Beschäftigten, 2012 waren es 24%). Der Soziologe Klaus Dörre hält fest: eine große Mehrheit dieser sozialen Gruppen strebt nach gesellschaftlicher (Re)Integration durch reguläre Erwerbstätigkeit.
In einer Gesellschaft, in der die relative (disqualifizierende) Armut, also eine Armut, in der zwar ein physisches, aber kein soziokulturelles Existenzminimun gesichert wird, beständig wächst und eine Gesellschaft, in der die
Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zunimmt, verschäft sich das soziale Klima und gleichzeitig wächst die Angst derer, in die immer größere Teile der Bevölkerung erfassende relative (disqualifizierende) Armut abzusteigen. Hierin liegt die sozioökonomische Bedingung von Rechtsextremismus begründet. Die soziale Unzufriedenheit erfasst nicht nur diejenigen, die von relativer Armut betroffen sind, sondern ebenso diejenigen, die soziale Existenzrisiken befürchten. Wenn soziale Sicherungssysteme abgebaut werden und der Eindruck entsteht, dass im Falle von sozialen Existenzrisiken wie Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit, Unfall etc. der Sozialstaat Menschen nicht mehr ausreichend abfedert, verschärft sich das soziale Klima und führt zu sozialer Unsicherheit/Unzufriedenheit. Nach Stöss lösen soziale Unzufriedenheiten pessimistische Zukunftserwartungen aus und bewirken Gefühle der Benachteiligung und Ausgrenzung. Diese befördern wiederum Vorurteile gegenüber Fremden und Schwachen, die für den Status Quo verantwortlich gemacht werden. Gleichzeitig wächst in dieser Problemlage das Bedürfnis nach autoritären Konzepten. Gepaart mit dem Vertrauensverlust in die vorherrschende Politik wächst der Wunsch nach autoritärer Herrschaft, die vermeintlich für Stabilität und Sicherheit zu sorgen vermag.
Rechtsextremismus ist nicht nur psychologisch, ökonomisch und politisch bedingt, seine Entstehung wird auch über die politische Kultur mit verursacht. Wenn in Politik und Medien Feindbildkonstruktionen und Bedrohungsszenarien verbreitet werden, wird deutlich, dass Rechtsextremismus nicht bloß ein Randphänomen, ein Problem der „kleinen Leute“ ist, sondern in der Mitte der Gesellschaft verankert ist. Wenn in der politischen Kommunikation und in den Massenmedien von kriminellen Flüchtlingen, Grenzziehungen zum Schutz vor Flüchtlingen, Vorrang für Deutsche auf dem Arbeitsmarkt etc. die Rede ist, bieten sich Anknüpfungspunkte zum Rechtsextremismus, die verstärkend wirken können. In Parteien und Medien gilt rechtsextreme Stimmungsmache mitunter auch als erfolgsversprechende
Strategie für Wählerfang und Absatzerhöhung.
Butterwegge sieht eine weitere Bedingung zur Entstehung von Rechtsextremismus besonders in der Gegenwart als entscheidend an, die mit dem Globalisierungsprozess einherging. Die vor dem Hintergrund der Globalisierung in den 1990er Jahren entstandene Wettbewerbssituation zwischen den Staaten um die besten Standortbedingungen beflügelte einen Standortnationalismus, der darauf abzielt, Deutschland als Wirtschaftsstandort um jeden Preis immer effizienter und konkurrenzfähiger gegenüber anderen Standorten zu machen. Durch eine Internationalisierung der Warenproduktion durch eine Zerlegung auf viele Standorte sowie eine Internationalisierung von Dienstleistungen (Finanzen und Versicherungen z.B.) wird Druck auf nationale Regierungen ausgeübt, sich im Kampf um den nationalen Standort gegenüber anderen nationalen Standorten zu behaupten. Diese Standortlogik ist ein weiterer Kristallisationspunkt für Rechtsextremismus, da diese Standortlogik eine Nation als Wirtschaftsstandort zu verherrlichen droht und sich gegenüber anderen Nationen als Standort abgrenzt. Dieser Standortnationalismus erzeugt eine Hetzstimmung, die sich sowohl gegen Gewinner als auch Verlierer richtet. Einerseits wird gegen Verlierer gehetzt, die vermeintlich nicht genügend leisten für den eigenen, natioanlen Standort, z.B. Zuwanderer. Andererseits wird gegen Gewinner gehetzt, da sie alle korrupt sind und nur an sich selber denken. In dieser Gemengelage wird insgesamt eine demokratiefeindliche Stimmung heraufbeschworen, die Rechtsextremismus Vorschub leisten kann.
Diese Erklärungsfaktoren (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) bilden den Nährboden, auf dem Rechtsextremismus gedeihen kann. Sicherlich entsteht Rechtsextremismus nicht erst dann, wenn alle Bedingungen erfüllt sind. Welche Bedinungen im Einzelfall wie zu gewichten sind, bedarf konkreter Einzelfallanalysen. Es wird aber deutlich, dass eine einfache Bekämpfung rechtsextremen Verhaltens nicht ausreicht. Auch psychologische Betreuung/Therapie vermag das Problem als solches langfristig nicht zu lösen. Die Möglichkeitsbedingungen von Rechtsextremismus sind vielmehr insgesamt zu bekämpfen, um erfolgreich gegen Rechtsextremismus vorzugehen. Dazu gehört die Verbesserung der politischen Kultur, in der antidemokratischen Diskurse geführt werden, an die Rechtsextremismus andocken kann. Ferner ist die neoliberale Standortlogik zu kritisieren und zu verwerfen, um wirtschaftsnationalistischen Auswüchsen Einhalt gebieten zu können. Außerdem, und darin sehe ich einen schwerwiegenden Faktor, ist die soziale Frage dringend aufzugreifen, da die sozioökonomische Ungleichheit mehr denn je Zündstoff für Rechtsextremismus bietet.
Quellen:
Adorno, Theodor W. (1950): The Authoritarian Personality.
Butterwegge, Christoph (2014): Abwicklung des Sozialstaats. In:
https://www.youtube.com/watch?v=piApfkqNSe4 (Zugriff 15.11.2015)
Butterwegge, Christoph (2015): Rechtsextremismus im Zeichen der Globalisierung. In:
https://www.youtube.com/watch?v=AKkBruD5NX4 (Zugriff 15.11.2015)
Dörre, Klaus (2010): Armut. In: Lexikon der Politikwissenschaft (Hrsg.): Nohlen und Schultze.
Fahrenberg, Jochen (2014): Autoritäre Persönlichkeit. In: Lexikon der Psychologie.
https://portal.hogrefe.com/dorsch/autoritaere-persoenlichkeit/ (Zugriff 15.11.2015)
Fromm, Erich (1956): Die Kunst des Liebens.
Paugam, Serge (2008): Die elementaren Formen der Armut.
Statistikportal zu Arbeitslosengeld II:
http://de.statista.com/statistik/daten/studie/1396/umfrage/leistungsempfaenger-von-arbeitslosengeld-ii-jahresdurchschnittswerte/ (Zugriff 15.11.2015)
Statistikportal zu Hartz 4:
http://de.statista.com/statistik/daten/studie/4275/umfrage/anteil-der-hartz-iv-empfaenger-an-der-deutschen-bevoelkerung/ (Zugriff 15.11.2015)
Statistikportal Niedriglohnbeschäftigung:
http://de.statista.com/statistik/daten/studie/161881/umfrage/niedriglohnbeschaeftigte-in-deutschland-seit-1995/ (Zugriff 15.11.2015)
Stöss, Richard (2010): Rechtsextremismus im Wandel.